Globaler Kopfstand: Gedanken zur aktuellen Lage

Global Shirshasana Time – Ein Text von Selina Beghetto

Es ist längst kein Geheimnis mehr: Die Welt steht Kopf und wir mit ihr. Global Shirshasana Time sozusagen. Egal ob jung oder alt, yogaerfahren oder nicht, südlich oder nördlich des Äquators: 2020 hat alles auf den Kopf gestellt und die Welt in eine andauernde Umkehrhaltung gezwängt. Statt einigen Atemzügen oder paar wenigen Minuten, stecken wir alle seit fast einem Jahr in dieser Position fest. Ob wir wollen oder nicht. Das ist ganz schön anstrengend. Während der Kopfstand (Sanskrit: शीर्षासन śīrṣāsana) im Normalfall als Königin der Asanas gilt und sehr viele Vorteile für Körper und Geist mit sich bringt, fühlt er sich im übertragenen Sinn im Kontext der aktuellen Weltlage gerade alles andere als angenehm an.

Es ist anstrengend kopfüber zu sein und als wäre das nicht genug, kommt die ganze Gleichgewichtssache noch dazu. Doch trotz allen Schwierigkeiten hat diese besondere Ausgangslage einen grossen Vorteil: Für einmal steht das Herz über dem Kopf.

Dieser Text ist ein Plädoyer für mehr Gelassenheit, die es ermöglicht, Dinge einfacher anzunehmen wie sie sind und für den Mut, Bequemlichkeit im Unbequemen zu finden. Er weist darauf hin, dass es immer eine Frage der Perspektive ist und dass die Welt auch kopfüber schön sein kann, ganz im Sinne von Pippi Langstrumpf: Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt. Natürlich ist das einfach gesagt als getan und darüber hinaus ganz klar eine Frage der Privilegien. Nichtsdestotrotz – oder gerade umso mehr – gilt der Appell: Herz hoch, nichts ist für immer, alles geht vorbei.

In den vergangenen Monaten musste ich immer wieder an den Kopfstand als Metapher für den allgemeinen Zustand der Welt denken. Wir Menschen sind es generell gewohnt, dass unser Leben in gewohnten Bahnen verläuft und wir das meiste unter Kontrolle haben. Und plötzlich ist alles anders. Schockstarre statt Weltreise. Unser mächtiger roter Pass nützt uns nichts mehr, auch das ganze Geld auf dem Konto nicht: Ein kleines Virus hat die Erde komplett im Griff und legt im Alleingang alles lahm. Das muss erstmal verdaut werden. Die ersten Wochen des Lockdowns sind geprägt von Machtlosigkeit und Unwissen. Ängste tauchen auf, Verzweiflung und Ohnmacht machen sich bis heute breit. Es fühlt sich an, als hätte jemand den Boden unter den Füssen weggezogen und in die Tonne getreten. Oder eben wie im Kopfstand.

Die Umkehrhaltung schenkt aber auch eine neue Perspektive. Das macht den Weg frei für Dinge, die vielleicht sonst nie einen Platz gefunden hätten. Was fehlt mir schmerzlich und was kann ich hingegen zukünftig getrost weglassen? Welche neuen Wege lassen sich entdecken, was für Fähigkeiten schlummern in mir drin? Für die einen stellt die Homeoffice-Situation eine grosse Herausforderung dar, andere lernen dadurch ihr Zuhause besser kennen und schätzen ihre vier Wände mehr als zuvor. Andere entdecken das Brotbacken für sich, während sich wieder andere auf ihr neu gekauftes (und endlich geliefertes) E-Bike schwingen und die Nachbarschaft erkunden. Die Beziehung zur Natur bekommt eine völlig neue Bedeutung, kein Wunder, wenn in der Stadt sämtliche Einrichtungen geschlossen bleiben, suchen sich die Menschen andere Beschäftigungen. Die Alternative? Frische Luft! Während der Lebensraum der Tiere im Normalzustand durch Lärmbelästigung massiv beeinträchtigt wird, zwitschern die Vögel morgens mitten in der Neustadt fröhlich um die Wette. Im Hafen von Cagliari werden im vergangenen Frühling seit Jahren erstmals wieder Delfine gesichtet. Mein Herz lacht und ich denke mir: Alles hat auch etwas Gutes. Es ist tatsächlich immer eine Frage der Perspektive und es liegt in meiner Hand zu entscheiden, wie ich etwas betrachten möchte.

Fakt ist aber auch: Es ist anstrengend. Das gebe ich zu. Diese umgekehrte Ordnung ist ermüdend und fordert die Balance immer wieder heraus. Was also tun? Eine Möglichkeit wäre, den Kopfstand tatsächlich zu üben (die FAYO Home Practice Plattform bietet Hand) und darüber zu lachen, wenn du rauspurzelst (siehe Foto). Nicht vergessen: Es ist okay das Gleichgewicht zu verlieren. Verbanne deinen inneren Richter von der Matte. Die momentane Situation verlangt sehr vieles von dir ab, die Achterbahn gehört dazu. Ich kaufe mir jeweils wieder ein Ticket. Es ist wie ein Kreislauf, der sich immer wieder schliesst. Und das Beruhigende an der ganzen Geschichte: Wir stecken da alle gemeinsam drin – und darin liegt ein grosser Trost. Es ist in der Tat Global Shirshasana Time.

Auf dass wir den Kopfstand bald wieder gemeinsam auf der Matte zusammen üben und geniessen können!

Weiterführend ein Artikel der «Welt», warum ein Kopfstand glücklich macht.

Newsletter

Erhalte News zum Studio, Workshops und weiteren Terminen.